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Geschichten aus dem Schnee lesen

Sind wir auf Spurensuche, lesen wir Zeichen und Hinterlassenschaften aller Art. Als würden wir eine Geschichte lesen, rekonstruieren wir die Vergangenheit und entdecken dabei Details aus dem Leben der Tiere und Pflanzen. Dies alles könnten wir derart eindrücklich wohl kaum aus Büchern lernen. Pfoten hinterlassen nicht nur ihren Abdruck als Eindruck im Schnee, sondern auch einen lebendigen Eindruck in uns. Wir tauchen in die Geschichte der Vorgänger ein. Beziehungen zwischen den Organismen tun sich auf, Bewegungsmuster, Begegnungen. Präzise Mechanismen zum Energie Sparen, um den harten schneereichen Winter zu überleben, werden sichtbar.

Unterwegs mit einer Gruppe von naturbegeisterten Expert:innen vieler Fachrichtungen stapfen wir tagelang durch den tiefen Schnee in der slowakischen Liptau. In diesem Talkessel zwischen Hoher Tatra, Niederer Tatra und Großer Fatra ist die Landschaft imposant. Auf der Suche nach Fährten von Wolf, Bär und Luchs durchleben wir die Geschichten der Wildtiere noch einmal, schlüpfen in sie hinein, versuchen sie zu sein, mit ihren Augen zu sehen. Und lernen dabei unglaublich viel über ihre Biologie, Ökologie und ihren Alltag.

Der erste Tag beginnt vielversprechend. Wenige Meter vor uns sitzt ein Dreizehenspecht auf einem dicken Stamm und lässt sich nicht stören. Wir pirschen uns an und können ihn lange beobachten, wie er die Baumrinde bearbeitet und beklopft. Ein Weißrückenspecht landet in den Baumkronen über uns – und lässt sich erst im Nachhinein am Foto sicher als solcher bestimmen.

Bald stoßen wir auf die erste Wolfsfährte. Diesen faszinierenden handtellergroßen Trittsiegeln folgt man des öfteren eine Weile, über mehrere hundert Meter, in der Annahme einem Einzeltier zu folgen. Doch plötzlich teilt sich die Fährte auf, eine Spur zweigt ab. Kurz darauf noch eine, und noch eine… Auf diese Art und Weise stellt sich heraus, dass das gesamte Rudel unterwegs war, nicht bloß ein Einzeltier. Diese Überlebenskünstler sind gewaltige Profis im Energiesparen. Mit einer faszinierenden Präzision setzen sie nicht nur ihren Hinterfuß in den Abdruck des Vorderfußes, sondern alle Individuen des Rudels setzen ihre Füße exakt in jene der Vorangegangenen. Zudem sind sie als Jäger in ihren großen Revieren zielstrebig und meist im Trab unterwegs, dies ist ihre „harmonische Gangart“. Am Ende dieses langen Tages entdecken wir fein abgedrückte Liegeplätze zweier Wölfe. Wie sich noch herausstellen wird, handelte es sich um Ruheplätze nach einer Mahlzeit. Unweit davon liegt ein Riss, etwa einen Tag alt.

An einem anderen Tag sind wir bereits eine Zeit lang unterwegs, als wir einen großen Pfotenabdruck im Schnee entdecken. Jedoch sind diesmal keine Krallen abgedrückt, der Mittelfußballen ist dreilappig und die Zehen sind asymmetrisch angeordnet. Dies sind die Merkmale der Feliden, der Katzenartigen. Die Größe verrät uns, dass wir auf eine Luchsspur gestoßen sind. Der Luchs markiert typischerweise an Baumstümpfen und anderen markanten Strukturen, wir schnuppern am katzig duftenden Urin, können der Fährte lange folgen. Dies macht sich bald bezahlt, sie zweigt von der Forststraße ab und führt in einen leicht geneigten Hangwald. Das Tier hat sich auf einen Baumstumpf gesetzt. Deutlich erkennen wir die Vorder- und Hinterpfoten, die Abdrücke von Hinterteil und Schwanz. Die Spur führt uns nach wenigen Metern auf den nächsten Baumstumpf, und dies wiederholte unser Vorgänger insgesamt sechs Mal. In alle Himmelsrichtungen talabwärts hat die Katze geblickt – und wohl geschrien, wie wir nun rekonstruieren. Es ist Ranzzeit, in der die Tiere akustisch auf sich aufmerksam machen, um einander zur Paarung zu finden.

Nicht an jedem Tag sind wir auf den Fährten der großen Waldbewohner unterwegs, doch immer gehen wir abends zufrieden nach Hause. Das Schöne ist, dass wir alle uns an den scheinbar kleinen Rätseln erfreuen und diese durch unsere Neugierde zu großen Geschichten werden. In einem Fichtenjungbestand hat ein Eichhörnchen am Fuße vieler Bäume je ein Nussversteck angelegt. Das Tier war kurz vor uns zur winterlichen Haselnuss-„Ernte“ hier. Wir trauen unseren Augen nicht, als wir die Löcher inspizieren und den vollständigen und unversehrten dreidimensionalen Abdruck des Nagers entdecken. Hinterfüße und Vorderfüße sind schön abgedrückt. Aber nicht nur das. Der Kopfabdruck hat Ohren mit Pinseln und eine kleine Nasenspitze ist zu sehen. Der feine Geruchssinn hat dem Tier verraten, dass die Nuss einige Dezimeter weiter seitlich liegen muss. Auf der Stelle wird der energiereiche Leckerbissen verspeist, die Schalen bleiben auf der Schneedecke zurück, die Zahnabdrücke lassen sich auf der Nussschale gut erkennen.

Während einer Teepause beobachten wir eines Tages einen Tannenhäher. In einer alten Fichte sitzt er und hackt auf seine vor Wochen oder Monaten versteckte Nuss ein. Normalerweise ist dieser eindrucksvolle Vogel sehr scheu. Wir sind erstaunt, dass er sich auch nicht stören lässt, als wir nach etwa 15 Minuten sehr nah an ihn heran pirschen. Er bleibt einfach im dicken, alten Baum einige Meter über uns sitzen, während wir die hinterlassenen Hackspuren im Schnee begutachten. In diesem tief verschneiten Winterwald sitzt er im Geäst über uns, gibt uns Einblicke in sein gut isoliertes Hinterteil und linst hie und da mit einem Auge in die Kamera.