Besuch bei den Riesen
Im Oktober hatte ich das große Privileg, einen der letzten Urwälder Österreichs und Mitteleuropas, den Rothwald in Niederösterreich, im Rahmen einer geführten Exkursion zu besuchen. Der Begriff „Urwald“ meint, dass der Wald seit der letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jahren keiner Nutzung durch den Menschen unterzogen ist. So etwas in Österreich? Einer Verkettung von Zufällen ist es zu verdanken: Streitigkeiten um die Grundgrenze der Klöster Gaming und Admont, die geografische Lage an einer Wasserscheide sowie die Entscheidungen des Albert Rothschild trugen dazu bei, dass wir diesen Schatz noch haben. Und es ist ein großer Schatz. Ein derart weicher Boden, dass man Sorge hat, etwas kaputt zu steigen, eine unglaubliche Palette von Grüntönen und Moos-Texturen, das Gefühl in einer überdimensionalen Säulenhalle aus organischen, weichen und sanften Riesen zu wandeln, tiefer Respekt vor dem Kreislauf des Lebens, Dankbarkeit dies sehen und riechen zu können…
Man taucht ehrfürchtig ein in ein Netz des Lebens, das man so zuvor weder gesehen, noch gespürt oder gerochen hat. Ein Fichten-Tannen-Buchen-Wald mit absolut natürlicher Altersstruktur. Vom Baumriesen – der höchste Gemessene ist eine Fichte mit 63m – bis zum Kleinkind von wenigen Zentimetern ist alles zu finden. Besonders geschützt und umsorgt können sich die jungen Bäumchen auf den gigantischen umher liegenden toten Stämmen entwickeln. Geborgen zwischen Moosen, Bärlappen, Farnen und Flechten wachsen sie auf diesem Nährstoff- und Wasserspeicher Totholz heran. Die Pilze haben das Holz Jahrzehnte lang bearbeitet, das Lignin ist verdaut, das Holz eine weiche Masse, wie ein Schwamm, voll gesogen mit Wasser. Man spricht von der so genannten Kadaver-Verjüngung: Totholz dient als Kinderstube für Keimlinge.
Den Pilzen kommt in diesem Lebensraum eine der wichtigsten Rollen zuteil. Sie verbinden in einem unterirdischen Netz von Hyphen, dem eigentlichen Pilzkörper, alles Lebendige in diesem Wald miteinander. Erwiesenermaßen verteilen sie Vitamine und Nährstoffe, spielen eine Rolle in der Kommunikation der Bäume untereinander, helfen ihnen bei der Aufnahme von Wasser und Mikronährstoffen. Manche Autoren sprechen von einem Sozialsystem in der Lebensgemeinschaft Wald: kranke und schwache Bäume, so wie junge Keimlinge werden von jenen versorgt, die genug haben. Die Pilze dienen als Postboten. Der gemeinhin als Pilz oder Schwammerl bezeichnete Teil ist genau genommen nur der Fruchtkörper, welcher der Vermehrung eines unterirdisch lebenden, viel größeren Organismus dient. Vergleichbar mit dem Apfel, der Frucht eines Baumes, wobei dessen Stamm und Äste den Hyphen, dem Pilzgeflecht, entsprechen.
Durch dieses dichte Netz an miteinander verbundenen Organismen entsteht ein gegen Störungen sehr stabiles System. Das Immun- und Kommunikationssystem des Waldes ist intakt. Borkenkäfer, welche in einem Wirtschaftswald großen Schaden anrichten können, übernehmen hier eine wichtige Funktion, nämlich jene, die kranken Bäume aus dem System zu nehmen. Gegen einen gesunden Baum hat „der Käfer“ aber keine Chance. An der befallenen Stelle produziert der Baum sogleich klebriges und antibakterielles Harz, um den Eindringling einzuschließen und die Wunde zu desinfizieren. Der befallene Baum sendet mittels gasförmigen Molekülen, der großen Stoffgruppe der Terpene, Warnsignale an die umliegenden Bäume aus, welche prompt reagieren können. Die Baum-Nachbarn sind also gewarnt und wissen sich zu helfen, beispielsweise mit der Einlagerung von Bitterstoffen, welche Fressfeinden den Appetit verderben sollen.
Ein besonderer Pilz ist der Duftende Feuerschwamm, welcher hier im Rothwald einen von 9 weltweit bekannten (!) Fundorten hat. Er ist ein optisch höchst unscheinbarer Totholz-Pilz, welcher seinem Namen alle Ehre macht und betörend nach Rose duftet. Der wohl größte Pilz, den ich jemals zu Gesicht bekam, ließ uns nicht schlecht staunen. Über eine Fläche von mindestens 10 x 15 Metern waren seine Fruchtkörper über allem verteilt, was am Boden lag. Er wuchs aus toten oder kranken Baumstämmen oder direkt aus dem Boden. Wir trauten unseren Augen nicht, auf ein einzelnes Foto war er nicht hinauf zu bekommen.
Nun, seit 10.000 Jahren existiert dieser Wald – das scheint für uns eine lange Zeit zu sein. Aber was bedeutet das in Baumgenerationen? Ein neuer Blickwinkel wurde uns bei der Führung eröffnet: Lässt man die Bäume ohne wirtschaftlichen Nutzen wachsen, erreichen Fichten und Tannen ein gigantisches Alter von 600-800 Jahren (anstatt den üblichen 80 im Wirtschaftswald), Buchen werden etwa 300 Jahre alt. Stirbt der Baum, steht er erst noch an die 100 Jahre (und kann von einer Vielzahl von Tieren und Pilzen als Bruthöhle und Nahrungsquelle genutzt werden), bevor er umfällt und noch einmal weitere 100-200 Jahre am Waldboden liegt. Langsam schmilzt er förmlich in der Boden, sich dabei an jede Bodenunebenheit anschmiegend. Gehen wir also davon aus, dass eine Fichte oder Tanne etwa 1.000 Jahre im System ist, ist die letzte Eiszeit erst 10 Baumgenerationen her. Für die Buche, welche erst vor 6.000 Jahren ins Gebiet eingewandert ist, sind es umgerechnet auf ihr Höchstalter ebenso „nur“ 10-12 Generationen. Wer hätte das gedacht?